Dylan in Hamburg

Gute Musik aus Blues, Rock und R&B
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trablu
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Dylan in Hamburg

Beitrag von trablu »

Freitag, 05. Juli 2019. Die barclaycard arena Hamburg füllt sich langsam. Sie ist an diesem Abend nicht ausverkauft. Nur 7.000 Menschen wollen Bob Dylan sehen. Und die warten jetzt und vertreiben sich die Zeit. „Wo wollen wir denn nun danach noch was essen gehen? In der Schanze gibt es ein indisches Restaurant, dass dann noch aufhaben sollte. Ach so, Gerda mag ja nur vegetarische deutsche Küche ... ja wo wollen wir denn nun hin? Wir sollten das jetzt wirklich klären.“ „Ach, man darf das Konzert wirklich nicht mit dem Handy filmen?“ Das Publikum ist geschätzt 50 – 70 Jahre alt. Mit Dylan aufgewachsen. Es sind auch Jugendliche in der Halle. Von ihren Eltern mitgezwungen. „Bob Dylan ist eine Legende. Den musst Du mal gesehen haben.“ Frank Sinatra war auch eine Legende. Und Udo Jürgens auch. Aber dass interessiert heute Abend niemanden.

Meine Gedanken schweifen ab ... 35 Jahre in die Vergangenheit. Es war Donnerstag, 31. Mai 1984 ...

... Bob Dylans Konzertdebut in Hamburg. Das fand im St. Pauli Stadion statt. Ausverkauft vor 40.000 Zuschauern. Im Rahmen seiner, nach 1978 und 1981, dritten Europatournee, die ihn auch in die Bundesrepublik Deutschland führte. Co-Headliner der Tour war Santana. Man spielte bis auf eine Ausnahme nur in Fußballstadien.

Das Konzert begann am frühen Nachmittag mit einer völlig unpassenden und überflüssigen lokalen Band aus Hamburg. Dann gute anderthalb Stunden Santana. Danach eine gute Stunde Joan Baez, die im Rahmen seiner vertraglichen Verpflichtung, zusätzliche Vorgruppen zu buchen, von Deutschlandveranstalter Fritz Rau eingeladen wurde.

Baez trat solo auf und wurde bei einem gut fünfzehn minütigem Reggaeset von Carlos Santana und seinen drei Percussionspielern begleitet. Ihr war die Nervosität, direkt vor Dylan aufzutreten, deutlich anzumerken.

Und schließlich am frühen Abend Bob Dylan. Begleitet von Mick Taylor (Gitarre), Ian MacLagan (Keyboard), Gregg Sutton (Bassgitarre und Gesang) und Colin Allen (Schlagzeug). Musiker, die als reine Tourband für 27 Konzerte in sechs Wochen in Europa gebucht waren. Es war von vornherein klar, dass es keine Konzerte in den USA oder sonst wo geben wird.

Auf der Bühne brach das musikalische Chaos aus. Man war, nach viel zu kurzen Proben in Malibu und Los Angeles, nicht ansatzweise eingespielt. Die Eröffnungskonzerte in Verona waren Generalproben statt Konzerte.

Highway 61 Revisited / Jokerman / All Along The Watchtower / Just Like A Woman / Maggie´s Farm / I And I und Licence To Kill war der erste elektrische Set Dylan/Tourband. Alles klang rauh und unfertig. Dylan ohne Blickkontakt zu den Begleitmusikern, die sich mit Blicken abstimmten. Und gleichzeitig Dylan beobachteten, um reagieren und das Chaos beherrschen und nach Musik klingen zu lassen.
Abgang Dylan. Gregg Sutton übernahm. Got My Mojo Workin´.

Dann Dylan solo akustisch: It Ain´t Me Babe / It´s Alright Ma (I´m Only Bleeding) - mit dem üblichen Szenenapplaus bei der „Präsidentenzeile“ – und Don´t Think Twice, It´s All Right. Bei It´s All Over Now, Baby Blue stieg dann bei der zweiten Strophe die Band elektrisch wieder ein.
Den Abschluss des regulären Sets bildeten dann Masters Of War / Ballad Of A Thin Man / When You Gonna Wake Up / Every Grain Of Sand und Like A Rolling Stone, mit der Vorstellung der Tourband.

Die Zugaben startete Dylan solo akustisch mit The Lonesome Death Of Hattie Carroll.
Und dann kam das, was in der Presse (Internet & Co. gab es noch nicht) in den Vorberichten schon avisiert worden ist – die „Wiedervereinigung“ Dylan & Baez. Ihr letzter gemeinsamer lag drei Jahre zurück. Auf einem Festival in den USA.
Für viele (und auch für mich) war es der Höhepunkt des Tages. Bob Dylan & Joan Baez, begleitet von Carlos Santana: Blowin´ In The Wind. Dylan drosch auf seine akustische Gitarre ein und sang. Baez sang, krallte sich an Dylan und tanzte. Santana spielte Flamencogitarre und starrte zu Dylan sowie ins Nichts. Musikalisch fragwürdig, emotional historisch. Das Duett wurde nur noch in München wiederholt.
Abgang Baez.

Und zwischen Baez Verlassen der Bühne - vorbei an den applaudierenden Fritz Rau und Bill Graham (der Stunden zuvor mit der Ansage Santanas den Tag denkwürdig gemacht hat) – muss irgend etwas unsichtbar auf der Bühne passiert sein. Während Dylan die Gitarre wechselt, werfen sich Santana, Taylor, Sutton, MacLagan und Allen kurze Blicke zu.
Und stürmen, ohne irgendeine Rücksicht auf Dylan zu nehmen, in die zweite (und letzte) Zugabe. Tombstone Blues. Dylan hält locker mit. Eine tour-de-force, die Dylans Debut in Hamburg beendet. Santana und alle Begleitmusiker klatschen sich ab. Ein letztes „Thank you“ von Dylan ...

... und die Trompeten von Jericho reißen mich aus meinen Erinnerungen. Viel zu laut und zu blechern. Ich bin wieder im hier und jetzt. Es ist Freitag, 5. Juli 2019 ...

... nach der Fanfare vom Band betreten Dylan und Band die Bühne. Kurz vor 20:00 Uhr. Überpünktlichst beginnt Dylan, der ausschließlich elektrischen Flügel und Mundharmonika spielt. Begleitet wird er von Musikern, mit denen er Jahre bis Jahrzehnte zusammenarbeitet. Sie waren, teilweise oder komplett, an Dylans letzten 8 Studioalben beteiligt und haben ihn live begleitet. George Recile (Schlagzeug), Tony Garnier (Bassgitarre und Kontrabass), Charlie Sexton (Gitarre) und der Multiinstrumentalist Donnie Herron (Geige, elektrische Mandoline und Pedal Steel-Gitarre). Ein Ensemble wie ein klassisches Kammermusikquintett.

Bei den ersten drei Liedern Things Have Changed / It Ain´t Me, Babe und Highway 61 Revisited steht und sitzt Dylan hinter seinem Flügel. Bei Simple Twist Of Fate gibt es dann die ersten Mundharmonikaeinlagen und bei Can´t Wait verläßt Dylan zum ersten Mal seinen Platz und steht, in Croonermanier den Mikrofonständer mit dem Mikro schwenkend, singend vor dem Schlagzeug.

Für When I Paint My Masterpiece geht es dann zurück zum Flügel und zur Mundharmonika.
Dann Honest With Me und Tryin´ To Get To Heaven.
Scarlet Town wieder als Crooner und Make You Feel My Love und Pay In Blood wieder am Flügel, ersteres wieder mit Mundharmonika.
Sexton wechselt zwischen den Stücken stets die Gitarren und Garnier zwischen Bassgitarre und Kontrabass.

Dann die Hymne. Like A Rolling Stone. Das bis dato eher andächtig und konzentriert zuhörende Publikum wird wach. Oldiezeit bei Bob. „Schatz, weißt Du noch, damals? Ich und Du auf der Rückbank des alten VW-Käfers, den ich extra für Dich geknackt hatte...“). Das einzige wirklich schlechte und überflüssige Lied des Abends. Summer Days in dem an die Jambalaya-Version von Emmylou Harris & The Hot Band von angelehnten Arrangement wäre für mich die bessere Wahl.

Dann geht es, Dylan am Flügel (wie auch bei der Hymne), das Publikum wieder andächtig und konzentriert, weiter mit Early Roman Kings / Girl From The North Country / Love Sick / Thunder On The Mountain und Soon After Midnight. Der reguläre Set endet mit Gotta Serve Somebody.
Und abschließend noch zwei Zugaben: Blowin´ In The Wind und It Takes A Lot To Laugh, It Takes A Train To Cry.

Ein Konzert, das sich nicht in Worte fassen lässt. Man muss es gesehen und gehört haben.

Es war eine Form von Blues und Country, die durch die totale Reduzierung auf das Wesentliche zur Kammermusik wurde und damit eine unglaubliche emotionale Wirkung erzielte. Jedes Lied hochkonzentriert bis auf den Punkt gespielt. Eine Musik, die es von Dylan in dieser Form zuvor noch nicht gab. Musikalisches Neuland sozusagen.

Das gesamte Konzert wurde von Dylan, Garnier und Recile getragen. Also ein Flügel/Bass/Schlagzeug-Trio. Es erinnerte an die großen Jazztrio-Aufnahmen von Duke Ellington oder vom Oscar Peterson Trio. Sexton hat fast nur fills gespielt und damit Dylans Flügel (und Mundharmonika) verstärkt. Und Herron war erstmalig nur bei der Hälfte des Sets auf der Bühne. Um mit elektrischer Mandoline, Pedal Steel und Geige instrumentale Klangtupfer zu setzen.

Die Lieder selbst waren – dylantypisch – im Vergleich zu den Konzerten im vergangenen Jahr, wieder neu arrangiert. Girl From The North Country wurde ohne Schlagzeug gespielt. In etwa vergleichbar mit der 78er-Version auf DYLAN AT BUDOKAN. Und bei Thunder On The Mountain hat Sexton sein einziges Solo gespielt. Und Recile ein Schlagzeugsolo.
Am herausragendsten war jedoch Dylans Flügelspiel. Er hat wirklich gespielt. Seine Mundharmonikaeinlagen waren kurz, prägnant und harmonisch. Sein Gesang melodisch und klar.

Bob Dylan ist 78 Jahre alt. Er machte in der barclaycard arena Hamburg den Eindruck, dass es ihm wirklich um seine Musik als sich stetig wandelnde Kunst geht. Wiederholungen sind langweilig.

Hamburg 1984 und Hamburg 2019 sind eigentlich nicht vergleichbar. Doch, sind sie.

Dylan war in beiden Konzerten voll da. Und hat dem Publikum gegeben, was es seiner Meinung nach braucht. Das unterscheidet einen Performer vom Entertainer.
Bob Dylan ist ein, wenn nicht der Performer.

trablu
myfatherseye
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Re: Dylan in Hamburg

Beitrag von myfatherseye »

Hallo trablu!
Das liest sich wirklich wunderbar! Und du hast dir da wirklich große Mühe gemacht! Vielen Dank!
Ich muss dir recht geben, die einzige Konstante in seinem Schaffen ist die Verwandlung. Da ist er der unangefochtene Meister. Von jeder Neuinterpretation ist man neu berührt.
Wir sind am Mittwoch in Stuttgart dabei und freuen uns schon sehr. Nach deinen Ausführungen ist die Vorfreude weiter gestiegen.
LG
myfatherseye
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smile07ec
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Re: Dylan in Hamburg

Beitrag von smile07ec »

Willkommen zurück, trablu. Schön, dass Du wieder hier bist!

Klasse Konzertbericht. Man kann sich reinfühlen. Dylan sah ich noch nie live. Ne zeitlang juckte es mich schon, ihn mir anzugucken, aber irgendwie sollte es wohl nicht sein. Leider wurde ich von meinen Eltern nicht zu Dylan "transportiert" und später ging mein Interesse doch eher in andere Gefilde. Wobei ich mit Joan Baez schon einige Zeit lang relativ nah dran war. Die hörte ich in meiner Jugend sehr gerne.

Mal seh'n, vielleicht ergibt sich noch die Gelegenheit. Dein Bericht fördert ja schon mein Interesse an ihm.

LG Petra
Ich denke, ich muss nach vorn gehen - wo ich noch niemals gewesen bin. Anstatt zurück, wo ich war. Winnie, The Pooh
EricsBadge
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Re: Dylan in Hamburg

Beitrag von EricsBadge »

Sehr schön und authentisch geschrieben! Danke! Eine echte Würdigung seiner "Kunst".
Hyde Park London 1996 war mein letztes Dylan Konzert.
2020 würde ich sehr gern noch einmal hingehen.

Videos von ihm sind rar. Recht strenges Foto und Filmverbot.
Hier mal ein Video vom April 2019 aus dem Konzerthaus Wien:
https://www.youtube.com/watch?v=6GkE6n1HJqE
EricsBadge
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Re: Dylan in Hamburg

Beitrag von EricsBadge »

Auch in Mainz am Sonntag hat er einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen!
Hier ein Review der F.A.Z.:

https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ ... 75304.html
Dateianhänge
Dylan 2019-07-07 Mainz Review.jpg
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